Warum Benjamin Thomas immer einen Plan B braucht, wie barrierefrei Essen tatsächlich ist, und warum der Tag der Behinderung auch Denkanstoß sein sollte. Unterwegs mit einem Rollstuhlfahrer.
Der Radiowecker springt auf 6.30 Uhr. Fetzen der Wettervorhersage reißen Benjamin Thomas aus dem studentischen Tiefschlaf: „Zum Glück ist der Winter vorbei“, geht ihm durch den Kopf, während er sich schlaftrunken aufrichtet. „Aufstehen“, das wäre an dieser Stelle falsch formuliert, denn aufstehen im wörtlichen Sinne kann er nicht. Der 25-Jährige ist durch eine angeborene Gelenksteife, der sogenannten „Arthrogryposis multiplex congenita“ (AMC), auf einen Rollstuhl angewiesen. Warum die Witterungsverhältnisse (besonders im Winter) für Rollstuhlfahrer in Essen allerdings das kleinere Übel sind, wozu er immer einen Plan B hat, und wieso Öffentliche Verkehrsmittel für ihn Segen und Fluch zugleich sind, zeigt ein Tag im Leben des Studenten.
Foto: Kerstin Kokoska Die Zeit drängt, spätestens jetzt, um 7.15 Uhr, muss er das Haus verlassen, wenn er pünktlich um 9 Uhr in der Vorlesung an der Ruhr-Uni Bochum sitzen will. Der Treppenlift für die wenigen Stufen im Hausflur der Hochparterre-Wohnung in Rüttenscheid ist seine leichteste Übung. Und auch wenn der lange Winter allen zugesetzt hat: „Schnee ist bestimmt kein Grund, zu Hause zu bleiben“, sagt Thomas, dreht sich galant um 180 Grad und demonstriert, wie er sich in so einem Fall von seinem motorisierten Hilfsgerät vor ihm nicht ziehen, sondern rückwärts den Bürgersteig entlang schieben lässt. „Breitere Räder hinten – mehr Verdrängung“, verrät er beiläufig. Die wild geparkten Autos auf dem Gehweg stören ihn schon lange nicht mehr. „Man muss flexibel sein“, sagt er und lacht.
Nicht alle Stationen sind barrierefrei in Essen
Die nächstgelegene U-Bahn-Haltestelle wäre nun nicht die angesteuerte „Martinstraße“, sondern eigentlich „Messe Ost/ Gruga“. Warum er jedoch jeden Morgen mehrere hundert Meter Umweg in Kauf nimmt, hat einen einfachen Grund: „Die Haltestelle an der Messe ist nicht barrierefrei“ , weiß Thomas. Besser gesagt: noch nicht.
Denn den Plan, dort nachträglich einen Aufzug einzusetzen, gibt es schon lange. Bereits Ende 2012 hat die Essener Verkehrs AG (Evag) das Bauvorhaben in Angriff genommen, das ist allerdings erstens „ein kompliziertes Unterfangen, weil zwei Aufzüge benötigt werden“, erklärt Evag-Sprecher Olaf Frei, „und zweitens ein verhältnismäßig teures Projekt“. Die Nachrüstung dieser einen Haltestelle kostet die Stadt rund 1,5 Millionen Euro. „Daher geht so etwas nicht immer so schnell, wie es sich der eine oder andere wünscht“, meint Frei.
Hier der gesamte Bericht aus der NRZ vom 4. Mai 2013